Reinhard Jirgl forscht seit 20 Jahren in den DDR-Ruinen von gestern und den deutschen Alltagsruinen von morgen. Von Johannes Gelich
In dem Roman „Plattform“ schreibt Michel Houellebecq darüber, dass sich die Reichen in São Paulo nur noch mit Hubschraubern durch die Stadt bewegen, um den mit Raketenwerfern bewaffneten Straßenbanden gar nicht erst in die Hände fallen zu können. „Der-Reiche ist eine unerbittliche Bestie, der du 1 !Sense in den Leib stoßen od die du über-den-! Haufen schießen musst“ heißt es folgerichtig in Reinhard Jirgls 2005 erschienenem Buch „Abtrünnig“, einem Roman „aus der nervösen Zeit“, in dem der Ich-Erzähler aus dem wuchernden Krebs kapitalistischer Zerstörungswut seine Konsequenzen zieht. Für den zur Feder und nicht zur Waffe greifenden Autor bedeutet das „verbale Brandlegung“, die sich als poetologisch-politisches Programm in einer nahezu manischen Schreibwut manifestiert, die Ruinen der Geschichte gleichsam mimetisch heraufbeschwörend. Und dabei bleibt nicht einmal die Syntax in bester Arno Schmidt-Tradition von dieser Zerstörungswut verschont. Die oft verglichene Nähe zu dem Großmeister der deutschen Avantgarde beschränkte sich laut Jirgl lange Zeit darauf, dass die „Nicht-Teilnahme der Leserschaft die kühnsten Erwartungen übertraf“. Auf seine Leserschaft hat er in der Tat lange gewartet: In den 80er Jahren führte der 1953 in Ostberlin geborene Jirgl eine Schattenexistenz als heimlicher Schriftsteller am Abend, und Beleuchter an der Berliner Volksbühne untertags. Seine Fähigkeit zur Systemkritik hat auch und gerade in der „DeDeR“ Veröffentlichungen verunmöglicht: 1985 wurde sein erster Roman „Mutter Vater Roman“ wegen „nichtmarxistischer Geschichtsauffassung“ abgelehnt. Wie wenig staatstragend und mit den propagandistischen Erwartungen der DDR kompatibel Jirgls Ästhetik war, lässt sich schon an dem mit 17-jähriger Verspätung bei Hanser erschienen Libretto für Stimmen und Vocoder „Mamma Pappa Tsombi“ aus dem Jahr 1985 ablesen: Der vielstimmige, nach einem ausgeklügelten Simultanprinzip angeordnete dramatische Text beschreibt den verkorksten Alltag einer DDR-Kleinbürgerfamilie: das paradigmatisch nur als „Mann“ bezeichnete Familienoberhaupt, Busfahrer und Alkoholiker, hatte zu Beginn des Textes einen Unfall, bei dem er alkoholisiert war. Er hat sich dabei am Bein verletzt und befindet sich, eine enorme Geldstrafe gewärtigend, im Krankenstand; die behinderte und debile Tochter Philine (genannt FINE) vermag nichts anderes als zu sabbern und gelegentlich eines der titelgebenden Wortbrocken herauszustammeln: Mamma, Pappa, Tsombi. „Die Frau“ unterhält ein Verhältnis mit ihrem EX, einem strammen Offizier der Volksarmee; die aus dieser Verbindung stammende, elfjährige Tochter Christine (genannt TINE) lässt all die erlebte Gewalt an der behinderten Halbschwester Fine aus. Der geschilderte „DeDeR“-Alltag könnte trister nicht sein: Man oder „der Mann“ beschießt lärmende Nachbarn mit einem Luftdruckgewehr, um hinterher in Angst vor einer Anzeige des „Ha-Geh-el-Manns“ (HausGemeinschaftsLeitung) zu versinken; Man oder „der Mann“ schaut sich idiotische Zombie-Filme mittels von den Wessi-Verwandten mitgebrachten Videorecorder an; man oder frau verbringt verkorkste Urlaube und schimpft in kleinstbürgerlichster Manier über Schwule, die sich am Strand küssen. Am Ende läuft die Tochter TINE Amok, tötet Mann und Frau, um nach getaner Arbeit mit dem verschmierten Blutmal auf der Stirn auf die Straße und ins „Gewirre der großen Stadt“ zu gehen. Bereits in diesem frühen Text klingen Jirgls wichtigste Motive an: das Saufen als Selbstzerstörung und innerer Privatkrieg, der Krieg der Geschlechter als Bürgerkrieg und der Amoklauf als Ausdruck eines schwelenden, latenten Kriegszustandes der conditio humana. Was Heiner Müller unter Zuhilfenahme und Unterwanderung der Klassiker von den DDR-Zensoren unbemerkt in Gang setzte, wird hier unmissverständlich ausgeschrieben: der Werk-Tätige und Arbeiter als großmäuliger und kleinbürgerlicher Säufer, Vergewaltiger und Totschläger. In der DDR-Publizistik war das unerwünscht. 1990 erschien schließlich nach Vermittlung von Heiner Müller „in aller Stille“ Jirgls erster Roman „Mutter Vater Roman“. Zu sperrig, zu kopflastig, zu schwierig: unverkäuflich – so lautete die Reaktion der Buchhändler. Jirgls Erstling landete mit tausenden anderen Büchern im Hof des Leipziger Zentralversands, deren Lager die Remittentenflut nicht mehr aufnehmen konnte: als meterhoher Bücherberg inmitten geschmolzenen Schnees. „Der Bücherverbrennung von 1933 war die Bücherersäufung 1990 gefolgt. An dem einzigen Ort, wo Kommunismus wirklich herrscht, im Scheiter-Haufen, sind alle gleich.“ meint Jirgl dazu lakonisch. Nach der Wende veröffentlichte er zunächst im Kleinstverlag Roland Jassmann in Frankfurt, 1991 blieb der im Luchterhand Hamburg erschienene Roman „Im offenen Meer“ nahezu unbeachtet. 1993 kam schließlich Jirgls persönliche Wende: für das noch unfertige Manuskript „Abschied von den Feinden“ erhielt er den Alfred Döblin Preis. Die Telefone liefen auf einmal heiß, doch nur Michael Krüger hielt Wort und veröffentlichte den „schwierigen“ Jirgl Roman im Hanser Verlag. Der Kern der Narration ist rasch wiedergegeben: erzählt wird aus der Perspektive zweier Brüder deren (Familien-)Geschichte: der Vater, ein ehemaliger SS-Offizier, hat sich einst in den Westen abgesetzt, die Mutter daraufhin ins Irrenhaus eingewiesen, wachsen die Brüder bei Adoptiveltern in einer kleinen Wohnung für Bahnangestellte am Rande einer mecklenburgischen Kleinstadt auf, verlieben sich in dieselbe Frau. Der eine der Brüder geht in den Westen, der jüngere bleibt, wird Spitzel und verrät Bruder und Freundin; die Freundin, mit einem reichen Stasiarzt verheiratet, wird in der Folge ebenso in eine Irrenanstalt eingewiesen, ihre Kinder zur Adoption freigegeben: Geschichte als ein ruinöses Perpetuum mobile. Auch hier steht am Ende der Tod, wird doch die einstige Geliebte vom älteren Bruder ermordet. Der unerwartete und nicht immer einfach dechiffrierbare Perspektivwechsel, der bisweilen kalauernde Einsatz von norddeutschen Dialektphrasierungen und das Kindheitsmilieu an der Bahnstrecke verweisen ebenso auf Uwe Johnsons Spuren („Mutmaßungen über Jakob“) wie der Beginn des im Jahr 2000 erschienen Romans „Die atlantische Mauer“: so wie Gesine Cresspahl in den „Jahrestagen“ versucht hier eine junge Frau aus Dresden nach einer gescheiterten Liebesbeziehung ihr Glück in New York. Doch schon bei der Einreise in die USA prallt sie an der Atlantischen Mauer ab, wird von den Einreisebehören abgewiesen, da sie ausgefüllte Bewerbungsunterlagen zur illegalen Arbeitsaufnahme als Krankenschwester in New York bei sich führt. Auch hier ist der Irrsinn allgegenwärtig: ihr Ex-Mann, ein in die Psychiatrie eingewiesener Serienmörder, entwischte justament aus jenem Krankenhaus, in dem die Frau gearbeitet hatte und aufgrund dieser Koinzidenz entlassen worden war. Die Frau kehrt schließlich unverrichteter Dinge zurück in die DDR, um beim Bruder, einem Fotografen, einzuziehen. Anhand dieser Begegnung entfaltet Jirgl einen breiten Erinnerungsraum über das gemeinsame Dresdner Elternhaus, das „Toten-Haus“. Mit dem im Herbst 2005 erschienen Roman „Abtrünnig“ hat Reinhard Jirgl sein weit verzweigtes, bisweilen enorm nervendes Erzählsystem gleichsam einem hochkomplexen Schaltplan noch einmal technisch aufgerüstet: neben den ohnehin wie Slalomstangen 1gezogenen Phall-Stricken s-1 Privatorthografie hat Jirgl als Links bezeichnete Kästchen mit Texten aus Sekundärwerken in den Lauftext gesetzt, die, dem Informationsfluss im Internet vergleichbar, neue Wirklichkeitsebenen erschließen sollen. Die ruinöse Geschichte der DDR und die pervertierte Erfahrung des Grenzübertritts bildet auch in „Abtrünnig“ einen Handlungsstrang: ein ehemaliger Grenzsoldat der DDR verhilft der Ukrainerin Valentina bei Nacht und Nebel mitsamt ihrem Bruder zur Flucht in den Westen. Nach seiner Übersiedlung nach Berlin arbeitet er als Taxifahrer in der Hoffnung, Valentina wiederzufinden, was ihm zwar gelingt, doch aus der Liebe wird noch lange keine Beziehung. Der ehemalige Bundesgrenzler strauchelt ebenso wie der Ich-Erzähler der Haupthandlung, ein alkoholkranker Autor, der seiner Therapeutin aus Liebe von Hamburg nach Berlin gefolgt ist. Diese Liebesbeziehung scheitert genauso wie alle Versuche, als Schriftsteller und Journalist – die eigene Biografie lässt grüßen – in der nervösen Zeit Fuß zu fassen. Die Geliebte zieht schließlich das Erbe und die finanzielle Sicherheit einer ungewissen Liebesbeziehung vor, die Macht hält mit dem Geld die wirksamere Waffe in Händen. Am Ende hilft nur noch der Amok-Lauf, auch wenn er lediglich – als Roman im Roman – phantasiert und zu einem grandiosen Stück Zeitgeschichte literarisiert ist.
Im Epilog von Reinhard Jirgls „Mamma Pappa Tsombi“ findet sich ein mit Kinderhandschrift verfasster Schulaufsatz aus der 5. Klasse mit dem Titel „Das Leben im Jahr 2000“: „Die Autos werden besser im Straßenverkehr fahren können. Wenn man auf ein Knopf drückt fliegt das Auto in die Luft und über ein störendes hinweg […] Damit man schneller voran kommt.“ Der Schlusssatz des Schulaufsatzes könnte perspektivenloser nicht sein: „Vielleicht Leben wir schon nicht mehr.“ Solange es Autoren wie Reinhard Jirgl gibt, trifft diese Mutmaßung wohl noch nicht zu.
erschienen in Buchkultur, 2005
Reinhard Jirgl wurde 1953 in Ostberlin geboren, wuchs zehn Jahre bei den Großeltern in der Altmark (Sachsen-Anhalt) auf; 1964 kehrte er zu den Eltern nach Ost-Berlin zurück; Lehre als Elektromechaniker, Abendmatura, Studium und Hochschulingenieur für Elektrotechnik. 1978-1995 Techniker an der Berliner Volksbühne. 1993 erhielt er den Alfred-Döblin-Preis, 1999 den Josef-Breitbach-Preis. Lebt in Berlin.
Besprochene Bücher (Auswahl):
1995: Abschied von den Feinden, Hanser bzw. DTV, 1998, 10,17 EUR
2000: Die Atlantische Mauer, Hanser, bzw. DTV, 2002, 13, 50 EUR
2002: Genealogie des Tötens. Trilogie, Hanser, bzw. DTV, 2002, 28, 00 EUR
2005: Abtrünnig, Hanser, 25,90 EUR