Am 28. August 1944 geriet mein Großvater bei den rumänischen Erdölfeldern von Ploieşti in russische Kriegsgefangenschaft. Es folgte die Deportation in das an der Wolgamündung gelegene Kriegsgefangenenlager Astrachan, wo er im Jänner 45 starb. Auf Spurensuche eines ganz normalen Soldaten-Schicksals.
Von Johannes Gelich
Während der Zug die letzten Meter in die Station des Bahnhofs Ploieşti gleitet, hebt das flache, gelbe Winterlicht den morgendlichen Schleier von den Kühlsilos der Raffinerien. Die Metallkonstruktionen der Erdölanlage erscheinen wie unverständliche Gebilde der erst kommenden Zeit, hier wird das Holz gesammelt, das der Höhlenbewohner im Herbst für den Winter zusammenträgt. Keine Menschenseele zeigt sich auf dem Gelände der Petrom-Raffinerien, die menschliche Energie, die in dieser Anlage steckt, scheint wie vergessen.
Die Figur meines Großvaters bildet eine Leerstelle in meinem Leben, über die Stationen seiner letzten Reise kann ich nur Mutmaßungen anstellen. Ein Schleier liegt über den letzten Monaten dieses Lebens, ein Schleier, den auch diese Reise nicht ganz zur Seite wird heben können.
Es fällt mir schwer, Mitleid mit ihm zu empfinden. Er und seine Brüder, vor allem der älteste, Michael Friesacher, illegaler Nationalsozialist, Landesbauernführer und 1944 in Salzburg zum SS-Sturmbannführer ernannt, die Ahnen der berühmten Salzburger Gastwirtschaftsdynastie, waren üble Nutznießer des Systems: die von meinem Großvater als Teilhaber mitgeführte Getreidefuttermittel-Firma stellte 1938 Anträge auf Arisierung einer jüdischen Firma, die mit der Begründung abgewiesen wurde, dass „der Geschäftsumfang der Firma Friesacher sich durch den Wegfall des jüdischen Getreidehandels in den letzten Monaten vervielfacht“ habe und es völlig „ungesund wäre, wenn der Firma Friesacher noch mehr zugeschanzt würde.“ Als mein Großvater 1939 aus Geschäftsgründen nach Wien übersiedelte, bezog die Familie eine arisierte Wohnung in der Kantgasse im 1. Bezirk. 1941 und 1944 zeugte er auf den Fronturlauben zwei weitere Kinder, darunter meine Mutter. Dann war Schluss mit dem neuen Lebensraum im Osten. Der Ofen war aus. Bereits das ganze Jahr 44 über starteten die Amerikaner unaufhörliche Luft-Angriffe auf die Raffinerien von Ploieşti, nachdem sie im Jahr zuvor mit ihrer Mission Tidal-Wave so kläglich gescheitert waren. Ich sehe meinen Großvater, Hauptmann der Feuerschutzpolizei, in einem Einsatzwagen zwischen den Flammen hin- und herfahren, gestikulieren, hilflose Befehle erteilen, zu retten, was noch zu retten war. Die Arbeit in den Raffinerien, welche heute – eine Ironie des Schicksals – durch die ÖMV mehrheitlich in österreichischer Hand sind, war für Feuerwehrleute sehr gefährlich: in dem Moment, wo ein Angriff von der akustischen Überwachung angekündigt wurde, musste das Öl so schnell wie möglich aus den Leitungen gepumpt werden, damit während des Bombardements kein entzündbares Benzin durch die Rohre floss. Erschwerend kam hinzu, dass viele Bomben mit Verzögerungszündern versehen waren, die erst zehn Minuten oder eine halbe Stunde später detonieren konnten. Doch die Raffinerien waren nicht umsonst so hart umkämpft, bezog Hitler doch während des Krieges bis zu 40% des Erdöls aus den hiesigen Raffinerien, dem damals größten Erdölvorkommen Europas überhaupt. Aus diesem Grund verfügte die Anlage neben Berlin über eines der besten Luftabwehrsysteme der Wehrmacht: neben Tarnnetzen wurde Rauch zur Verteidigung eingesetzt, über den Türmen schwebten riesige Ballone, die explodierten, wenn die Tragflächen der amerikanischen Bomber die Kabel trafen, ganz abgesehen von einer umfassenden Luftabwehr und Anti-Luftangriff-Artillerie.
Doch im August 44 überschlugen sich die Ereignisse: am 19. August erfolgte das letzte Bombardement der Raffinerien, das die Anlage weitestgehend in Schutt und Asche legte. Am 20. August brach die Iaşi-Chişinau-Front im Norden zusammen, an deren Linie sich in der Moldau über zwei Millionen Soldaten gegenübergestanden waren. Am 23. August kündigte Rumänien Deutschland die Gefolgschaft und erklärte diesem daraufhin an der Seite Russlands den Krieg, was die Vermisstenmeldung meines Großvaters am 24. August plausibel erscheinen lässt. Es war der Anfang vom Ende, ja spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte der deutsche Generalstab in Rumänien den Durchhaltebefehl Hitlers („Bis auf den letzten Mann und die letzte Patrone“) ignorieren und den schnellst möglichen Abzug der Truppen organisieren müssen. Nach dem Überlaufen der Rumänen zu den Russen folgten hektische Telefonate zwischen den deutschen und rumänischen Generälen, die Rumänen räumten den Deutschen zwei Tage ein, um „den ehemaligen Waffenbrüdern“ den Rückzug über den Korridor Transilvanien zu ermöglichen. Allein, der Führer wollte nicht, was zigtausenden Soldaten das Leben kostete, darunter auch meinem Großvater. Was jetzt folgte, war das totale Chaos, von einer organisierten Front konnte nicht mehr die Rede sein, überall befanden sich völlig orientierungslose, versprengte, fragmentierte Splittergruppen der deutschen Armee. Laut den Angaben, die auf der sowjetischen Kartei der NKVD-Kriegsgefangenenakten basiert, geriet mein Großvater am 28.08.1944 im Raum Bukarest in sowjetische Kriegsgefangenschaft.
Über die Route seiner Deportation konnte ich im Vorfeld meiner Recherche nur Vermutungen anstellen. Ein aus der Gefangenschaft im Lager Astrachan zurückgekehrter Zeitzeuge berichtete, dass er selber in Rumänien in das Sammellager Focşani gebracht wurde, von da ging die Route weiter nach Kischinew, Nikolajew, Odessa, Dnepropetrowsk, Donezk, Rostow, Armawir, Georgijewsk und Astrachan. Aufgrund dieser Aussagen machen wir uns von Ploieşti auf nach Focsani. Die Spur meines Großvaters ist ab jetzt verwischt wie Spuren im Schnee, die der Wind verweht hat. Ich bin einem Geist auf der Spur, aber was kann man von den Geistern der Geschichte erfahren?
Der Direktor des städtischen, Historischen Museums von Focşani ist ein lustiger Mann mit einem chaplinesken Schnauzbart im Gesicht. Auf meine Frage, ob ein rumänischer Autor über die Lager in Focşani geschrieben hätte, schüttelte der Museumsdirektor den Kopf. Nein, niemand habe darüber geschrieben, es sei bis 89 ein Tabu, die russischen Archive geschlossen gewesen. Die Lager seien von den Russen gebaut, geleitet, bewacht worden, die Rumänen hätten mit den Lagern nichts zu tun gehabt. Ein österreichischer Zeitzeuge hatte mir in Wien indessen etwas ganz anderes erzählt: Schon bei der Einlieferung im Gefangenenlager von Focsani seien sie mit Prügel empfangen worden – von den rumänischen Wachmannschaften, versteht sich.
Tags darauf führt uns eine Historikerin aus Odessa auf den Spuren der Odessiter Deutschen durch die Innenstadt, die in dieser Stadt eine jahrhundertelange Tradition haben. An der Ecke Troitskaya- und Kanatnaya Straße bleiben wir vor einem zweistöckigen Jugendstil-Bau stehen. Hier, inmitten der Altstadt Odessas, befand sich hinter einem hohen Stacheldrahtgeflecht das Hauptlager 8 mit ungarischen, deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen. Ich frage die Historikerin, ob mein Großvater möglicherweise in diesem Lager untergebracht gewesen sein könnte, ehe er nach Astrachan weiter transportiert wurde. Ja, das sei durchaus möglich gewesen. Ich stehe vor dem weißen, renovierten Gebäude und stelle mir vor, wie mein Großvater am Abend, erschöpft von der Wiederaufbauarbeit am Hafen, von Soldaten der Roten Armee bewacht und angetrieben in das Haus trottet. An den vier Eckpunkten des Stacheldrahtzaunes standen Wachtürme, in den Schlafräumen eine Pritsche über die andere gestapelt, eng wie ein Kaninchenbau, über Strohsäcke als Matratzen musste man dankbar sein. Mein Großvater kam mit ziemlicher Sicherheit nach Odessa, aber ob er einige Wochen in diesem Lager hauste, bevor er weitertransportiert wurde – wer weiß das schon. Wir verabschieden uns hastig von der Historikerin, da wir bereits unseren nächsten Termin mit einer Zeitzeugin haben, die uns das jüdische Kulturinstitut vermittelt hat. Wir stapfen durch den Schnee in den Hof eines Wohnhauses, in denen winzige, einstöckige Häuschen aneinandergereiht stehen. Die Zeitzeugin Antonina Iwanowna Kusmina sitzt in ihrem geblümten Haushaltskleid und mit Kopftuch am Tisch im Flur des Reihenhäuschens, der zugleich Küche und Wohnzimmer ist. Der Korridor ist nicht breiter als zwei Meter. Hier spielt sich das häusliche Leben ab, hier vor dem Herd nehmen wir Platz und hören der 90-jährigen Frau zu, deren leise, gebrechliche Stimmer die Tochter als Lautsprecher verstärkt. Als Antonina eine junge Frau war, erlebte sie, wie durch ihre Wohnstraße deutsche Kriegsgefangene durchgeführt wurden. Sie und andere junge Frauen seien zu den Lagern gelaufen und hätten ihnen Brot über den Zaun geworfen, weil die Deutschen so gehungert hätten. Doch sie hatten Angst, dabei erwischt zu werden, und liefen schnell davon. Frau Kusmina zeigt stolz auf den Orden, der über dem Küchentisch hängt und den sie während des 2. Weltkrieges aufgrund ihres Dienstes als Krankenschwester in einem Kriegslazarett erworben hat. Während der Besatzungszeit rettete sie zwei jüdischen Kindern das Leben: Ihre Freundin hatte einen jüdischen Ehemann geheiratet, mit dem sie zwei Kinder, damals drei und fünf Jahre alt, großzog. Doch ihr Mann ließ sie mit den beiden Kindern sitzen und setzte sich nach Asien ab. Je länger der Krieg dauerte, desto gefährlicher wurde die Lage für die Juden Odessas, weswegen sie die Kinder der Freundin in dem kleinen Kohle-Schuppen hinter dem Haus versteckte. Untertags lebten die Kinder in dem Schuppen, und in der Nacht holte die Mutter die Kinder wieder ab. Die Rumänen haben ein hartes Besatzungsregime installiert, ruft die alte Frau aus, sie haben geklaut und die Leute geschlagen, die Juden haben sie in jedem Winkel gesucht.
Ja, sie hat viel erlebt, zwinkert uns Frau Kusmina zu. Allein der Glaube an Gott habe ihr sehr geholfen. Ob wir an Gott gauben würden? Wir bejahen höflichkeitshalber. Aber der Glaube allein reicht nicht, ruft die alte Frau aus, man muss die Evangelien kennen und sich daran halten. Wir nicken freundlich. Für Rechtlose gibt es ein Gesetz!, sagt sie leidenschaftlich und erzählt die Geschichte von dem zehnjährigen jüdischen Mädchen: Es wurde bei einer Massenerschießung nur verletzt. Die Rumänen haben sie und die Leichen in eine Grube geworfen und mit Stroh bedeckt und angezündet. Nackt wie es war, ist das Mädchen aufgesprungen und in ein Maisfeld gelaufen. Da ist ihr ein russischer Kollaborateur nachgerannt und hat sie erschossen! Doch nach dem Krieg, nach der deutschen Besatzungszeit hat er seine Schuld nicht mehr ausgehalten und hat sich aufgehängt! Für Rechtlose gibt es ein Gesetz! Als wir uns verabschieden, will die alte Frau noch einmal wissen, woher ich komme. Aus Österreich? Ja aus Wien. Die Österreicher, ruft sie aus, ihre Mutter, die noch den 1. Weltkrieg erlebt hätte, habe ihr erzählt, dass die Österreicher im Kampf ziemlich harte Knochen gewesen seien. Sie steckt mir noch einige Pralinen zu, wir umarmen und küssen uns. Und vergesst nicht, euch vor der Wolga zu verneigen, wenn ihr in Astrachan seid, sagt die alte Frau zum Abschied. Wir versprechen es. Dann stapfen wir wieder durch den Schnee auf unseren eigenen Fußspuren in entgegengesetzter Richtung davon.
Drei Tage später erreichen wir nach schier endloser, und doch so gemütlicher Zugfahrt durch die russische Steppe unser Ziel: „Astrachan“ ist zwischen den Eisblumen im Abteilfenster zu lesen. Vor dem Eingang des Bahnhofs kommt uns Lenin auf einem Marmorsockel entgegen und weist uns den Weg in Richtung Friedhof. Auf den Zäunen der Gräber sitzen unzählige Krähen, ja es sieht aus wie die Szenerie aus Hitchcocks Vögel, pechschwarz heben sich die Vögel vor der Schneelandschaft ab. Der Schnee knirscht unter meinen Schuhen, hier unter der Erde liegt irgendwo mein Großvater. Früher gab es hier Einzelgräber, erzählte mir die 85-jährige Mutter des Taxifahrers. Der Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge muss das Gelände planiert haben, denke ich, während ich die Gedanktafel zu Ehren der deutschen Kriegsgefangenen betrachte: „Hier ruhen Kriegsgefangene, Opfer des 2. Weltkriegs.“ War mein Großvater tatsächlich ein Opfer des 2. Weltkrieges? Ich hätte Lust, mit einem wasserfesten CD-Marker die Worte „und Täter“ zwischen das Wort „Opfer“ und „des“ einzufügen.
Der Taxifahrer begleitete uns schon den ganzen Vormittag über und ließ nichts unversucht, uns auf der Suche nach den Friedhofsbüchern durch die kafkaesken Gänge der Friedhofsverwaltung zu schleusen, jetzt drängt er uns, noch einmal zurückzufahren. Im Städtischen Archiv hatte man uns erklärt, das Kriegsgefangenenarchiv sei irgendwann abgebrannt. Irgendwo müsse es doch die Liste geben! Es muss die Friedhofsbücher geben! Ich werfe einen letzten Blick auf das hinter den Gräbern aufragende Heizkraftwerk, in dem die Kriegsgefangenen des Lagers arbeiteten. Dann reiße ich mich los und steige in das Taxi. Ich bin zu erschöpft, die Recherche weiter voranzutreiben, doch zum Glück haben die Übersetzerin und der Fahrer noch Energie. Mir ist sprichwörtlich das Benzin ausgegangen, so wie den Deutschen bei der Ardennen-Offensive. Doch während der Kreml von Astrachan und die Bronzestatue Lenins vor den Fenstern des Taxis vorbeiwischen, erinnere ich mich an die Worte des Friedhofsdirektors, der uns einige Stunden zuvor empfangen hatte. Nach der Erklärung, dass es keine Aufzeichnungen über die Kriegsgefangenen in den Friedhofsbüchern gäbe, wandte er sich direkt an mich und meinte, es sei vielleicht gar nicht so wichtig, ob der Name meines Großvaters auf einer Liste auftauche oder nicht. Ich hätte die Reise gemacht, und er glaube, mein Großvater wäre stolz auf seinen Enkel. Dort oben, sagte er, und rollte seine Augen in Richtung Plafond, weiß man Bescheid, wo Ihr Großvater liegt. Ich lasse mich zurück in meinen Sitz fallen, überlasse mich meiner Müdigkeit und genieße die letzten Momente unserer Reise. Meine Recherche ist zu Ende, wir müssen uns nur noch vor der Wolga verneigen, aber das sollte auch noch zu schaffen sein.
Johannes Gelich, geboren 1969 in Salzburg. Zuletzt erschienen die Romane „Chlor“ (2006) und „Der afrikanische Freund“ (2008), der in der FAZ vorabgedruckt wurde. Hat gerade einen Roman auf den Spuren seines Großvaters fertig gestellt. Lebt in Wien.
Der Artikel erschien in der FAZ am 8. August 2010