Das Erzählen ist so alt wie der Homo sapiens, und doch stellt sich die Frage: Wann begann der Mensch mit dem Erzählen? Oder sollte man besser sagen: Woher kommt der menschliche Erzählinstinkt? In seinem gleichnamigen Sachbuch beschreibt der Biologe und Hirnforscher Werner Siefer, wie das Lausen der Affen von der Sprache und dem Erahnen der Absichten anderer abgelöst wurde.
Das Gedankenlesen und Phantasieren von Intentionalität waren im Keim schon Vorformen kleinster Erzählungen, die sich in tausenden von Jahren weiterentwickelten. Der soziale Aspekt des Erzählens ist seitdem nicht mehr aus dem menschlichen Leben wegzudenken, wie auch die ungebrochene Begeisterung für alte Erzählungen und Mythen aus aller Welt belegen.
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Die österreichische literarische Avantgarde räumte nach 1945 mit dem Erzählen gründlich auf: Michael Scharangs Buch “Schluss mit dem Erzählen und andere Erzählungen” aus dem Jahr 1970 bringt eine Haltung auf den Punkt, die – ausgehend von der Wiener Gruppe – zum Angriff auf die Sprache als Mittel der Kommunikation ansetzte. Diese sprachkritische Haltung erkannte der Sprache, und mit ihr dem Erzählen, die Fähigkeit ab, die Wirklichkeit zu repräsentieren.
Man beschimpfte das Publikum (Peter Handke), Geschichten wurden “hinter Prosahügeln abgeschossen” (Thomas Bernhard), Dialog und Figurenidentität (Konrad Bayer) wurden abgeschafft. Doch auch die Avantgarden konnten dem offensichtlich urmenschlichen Drang nach Erzählungen nichts anhaben. Mittlerweile sind sich Expert/innen einig darüber, dass Narrative zur Konstituierung des eigenen Ichs für den Menschen geradezu lebensnotwendig sind.
Wir erzählen uns unser eigenes Leben, um uns in Zeit und Raum zu verorten. So verwundert es denn auch nicht, dass Mythen, Helden, Legenden und Sagen längst wieder Konjunktur haben. Der Mensch ist und bleibt ein Homo narrans.