Gestaltung: Johannes Gelich
Juli 2021
Radiokolleg, Ö1, ORF
Der große französische Schriftsteller Marcel Proust kam vor 150 Jahren in Paris zur Welt. Sein Hauptwerk “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” gilt als Meilenstein der modernen französischen Literatur und singuläre Leistung menschlicher Vorstellungskraft. Der “Recherche du temps perdu” wurde immer wieder Nostalgie, Snobismus und Verklärung der Vergangenheit vorgeworfen. Die rhetorische Frage “War früher alles besser?” versucht auf den Spuren von Marcel Prousts Roman-Monument Diskussionen über das menschliche Erinnerungsvermögen anzustoßen.
Prousts Erinnerungspoetik der “Mémoire involontaire”, der willenlosen, unfreiwilligen und zufälligen Erinnerung basierte auf dem Konzept der Subjektivität der menschlichen Wahrnehmung und lehnte die willentliche, Vernunft-bestimmte, objektive Erinnerung ab. Doch was passiert im menschlichen Gehirn, wenn sich der Mensch erinnert? Und was ist, mit Nietzsche gesprochen, der “Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben”? Prousts Erinnerungstechnik bediente sich oft einfacher Gebrauchsgegenstände, die wie Minen im menschlichen Gehirn vergraben, und einmal ausgelöst, Explosionen der Erinnerung auslösen.
Berühmtestes Beispiel ist das in Tee getunkte französische Feingebäck Madeleine, dessen Geschmack den Erzähler Prousts an seine Kindheit erinnert. Die Erinnerung an längst außer Mode gekommene Gebrauchsgegenstände lässt uns auch heute an das Vergehen der Zeit denken. Der Wirklichkeitsverlust, der mit dem Siegeszug der elektronischen und digitalen Medien einherging, färbt jedoch auch immer stärker auf das menschliche Erinnerungsvermögen ab.
Die Idealisierung der eigenen Vergangenheit unter dem Motto “Früher war alles besser” geht oft mit einem Gefühl der moralischen Überlegenheit einher.
Eine derartige Spießermoral arbeitet sich nicht selten an der vermeintlichen Unmoral der Jugend ab und instrumentalisiert die eigene Erinnerung. Dieser wertende und moralisierende Zugang zur Erinnerung war dem Schriftsteller Proust fremd. Die Gefahr der Instrumentalisierung von Erinnerung auf politischer Ebene offenbart auch das Konfliktpotential von Erinnerungskultur per se. Das Wiederaufflammen der Gewalt in Jerusalem, als Israel im Mai dieses Jahres an die Annexion des Ostteils der Stadt 1967 gedachte, zeigt, welche Konflikte öffentlich zelebriertes Erinnern auslösen kann. Doch wie könnten die Auswege aus einer Verklärung und Instrumentalisierung der Vergangenheit aussehen?
Und ist der Mensch durch das erbarmungslose Voranschreiten der Zeit nicht geradezu verdammt, die Vergangenheit zu verklären? Auch mit der Corona-Krise erfuhr die nostalgische Verklärung der guten alten Zeit vor der Pandemie eine Wiederbelebung in Form von rückwärts gewandten Utopien. Proust wiederzulesen könnte dagegen eine unaufdringliche Orientierung im Umgang mit der eigenen Erinnerung bieten.
Service
Die Zitate aus Marcel Prousts “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” wurden von Markus Meyer gelesen und entstammen der im Suhrkamp-Verlag erschienen Übersetzung von Eva Rechel-Mertens.
Marcel Proust (Autor), Eva Rechel-Mertens (Übersetzerin): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 4184 Seiten, Suhrkamp, 2001
Philippe Michel-Thiriet und Rolf Wintermeyer (Übersetzer): Das Marcel Proust Lexikon, suhrkamp taschenbuch, 1999
Marcel Proust; Jean-Yves Tadié; Estelle Gaudry; Bernd Schwibs; Jean-Yves Tadié: Briefe an seine Nachbarin, Insel Verlag, 2021
Marcel Proust; Bernd Schwibs (Übersetzer): Der geheimnisvolle Briefschreiber. Frühe Erzählungen. Suhrkamp, 2021
Proust Biografie:
Jean-Yves Tadié (Autor), Max Looser (Übersetzer): Marcel Proust: Biographie, Taschenbuch, 1265 Seiten, Suhrkamp 2017
Autor/innen der Sendung:
Gerald Hüther: Wege aus der Angst: Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen. Vandenhoeck & Ruprecht, 2020
Gerald Hüther: Etwas mehr Hirn, bitte: Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten. Vandenhoeck & Ruprecht, 2018
Petra Bernhardt (Autor), Karin Liebhart (Autor): Wie Bilder Wahlkampf machen;Taschenbuch, Mandelbaum Verlag, 2020
Ljiljana Radonic (Autor), Heidemarie Uhl (Autor): Gedächtnis im 21. Jahrhundert: Zur Neuverhandlung eines kulturwissenschaftlichen Leitbegriffs (Erinnerungskulturen / Memory Cultures) Taschenbuch, transcript; 1. Edition 2016
Achim Hölter (Hrsg): Marcel Proust: Leseerfahrungen deutschsprachiger Schriftsteller von Theodor W. Adorno bis Stefan Zweig, Taschenbuch, Suhrkamp, 1998
Johannes Steizinger: Revolte, Eros und Sprache. Walter Benjamins “Metaphysik der Jugend” (LiteraturForschung) Taschenbuch, ?Kulturverlag Kadmos , 2013
Michael Miersch (Autor), Henryk M. Broder (Autor), Josef Joffe (Autor), Dirk Maxeiner (Autor): Früher war alles besser: Ein rücksichtsloser Rückblick auf die Zeit vor der Digitalisierung. Als die Kugel Eis 20 Pfennig kostete und es in der Bahn … Augsburger Puppenkiste bis Zigarettenspitze. Bassermann Verlag, 2020
Guido Mingels: Früher war alles schlechter: Warum es uns trotz Kriegen, Krankheiten und Katastrophen immer besser geht – Ein SPIEGEL-Buch. Deutsche Verlags-Anstalt, 2017
Michel Serres (Autor), Stefan Lorenzer (Übersetzer): Was genau war früher besser?: Ein optimistischer Wutanfall. Edition suhrkamp, Taschenbuch, 2019