Die Hässlichkeit beginnt im Kopf, ehe sie sich im Raum manifestiert. Freilassing war da, in den Achtzigerjahren, noch bevor ich es betreten hatte. Die Wochenenden waren dem Sport reserviert. Wenn es nicht zum Segeln, Wandern oder Schilaufen ging, fuhr man nach Freilassing. Das Einkaufen in dieser österreichischen Enklave war eine Form der Leibeserziehung und Ertüchtigung des zu erziehenden Konsumkörpers. Die Hässlichkeit der 80er Jahre manifestiert sich im Freilassing in mir. Und doch rieche ich noch heute gerne den Geruch nach Kaufhaus und Stärkepulver, nach dem die frisch gekauften und für den Grenzübertritt angezogenen Lacoste-T-Shirts dufteten. Freilassing hieß: Aufbruch in den österreichischen Konsumwillen, dem das sozialdemokratisch vermehrwertsteuerte Österreich noch im Weg stand. Sogar die Milch war billiger, der Importwein aus Frankreich – einfach billiger. Und die Elektrogeräte und LCD-Uhren! Traumhaft! Auf dem Weg in die Salzburger Konsumenklave Freilassing, dem Mehrwertsteuerparadies, da sprangen die Schnäppchen wie die Häschen aus dem Warenwald am Rande der Autobahn nach München, dem schier unerreichbaren Einkaufs-Mekka des mehrwertsteuerfreundlich regierten Bayerns. Normalerweise brach man am Freitagnachmittag auf, setzte auf die Autobahn über, auf der Hinfahrt zeigten die Erziehungsberechtigten zornig den Pass, im Gegensatz zu mir, denn ich war stolz auf meinen Personalausweis, ja empfand eine fast erotische Aufregung beim Vorzeigen der jungen Identität. Auch das war der Grenzübertritt in jungen Jahren: fröhlicher Aufbruch in das Bewusstwerden einer Identität, die Einübung in den später so herbeigesehnten Grenzübertritt – von den Achtzigerkaufkraftjahren und ihren Erziehungsberechtigten gut gemeint: der Aufbruch in die Käuferidentität. Ich wollte meine eigenen Grenzen aber aus einem anderen Grund überschreiten: weil jenseits der Grenze vielleicht etwas Teureres war, nicht etwas Billigeres. Die Geschichten vom Niemandsland am Walserberg waren unheimlich und spannend – gab es denn Bewohner dieses Niemandslandes, und mussten sie an diesem wahrlich hässlichen Ort des Niemandslandes im Dreiländereck immer bleiben, ohne Pass, ohne Kaufpass, ohne den man nicht ins Großkaufhaus Salzburgs, nach Freilassing, fahren konnte? Der Erziehungsberechtigte schaute immer besonders grimmig beim Überqueren der Grenze in Richtung Deutschland. Die Zöllner zogen den Hut vor dem Doktortitel, diese Hochschätzung brachte einen in Kaufstimmung. In Deutschland auf der Autobahn dann erst einmal tanken, das Benzin war ja auch viel billiger – heute nicht mehr, da sieht man, wie schlecht es steht mit der Wirtschaftskraft Deutschlands. In Freilassing – im Gegensatz zum nicht minder begehrten, aber etwas weiter entfernten und deswegen nur für Großschnäppchen lohnenswerten Bad Reichenhall – gab es keine Fußgängerzone und keine gemütliche Altstadt. Freilassing war der Drive-in der Salzburger, der Straßenstrich, der Schnellfick der Salzburger Kaufkraft wie das heutige Edelpuff mit osteuropäischen Huren in Salzburg. Da schnell eine Milch beim Juhasz, dort schnell ein Sakko, ein Kodak-Film, 30 Prozent billiger, und im Supermarkt das bayrische Bier, billiger, billiger und – einfach besser. Bei der Nachhausefahrt, wir Kinder: Popanze im Fond, Kinder mit drei Hemden und drei Pullovern und zwei Sakkos im Hochsommer, alles schon angehabt bei der Hinreise, na klar, und das Schmuggeln war lustig, wie lustig. Das Billige mit dem Touch des Kriminals schmeckt um eine böse Spur besser. Freilassing war der Mr. Hyde der ehrenwerten Salzburger Dr. Jekylls. Das Ersehnte und Verbotene zugleich Hinten im Kofferraum, der Wagen musste ziemliche Tieflage gehabt haben, stapelten sich Konserven und Flaschen, je näher die Grenze kam, desto größer der Kitzel, die Nervosität. Ganz ungezwungen sein, sagte der Erziehungsberechtigte, ganz normal sein, was sagst du, wenn er fragt, was sagst du, wenn er fragt, ob wir was mithaben, nichts, ein paar Kleinigkeiten, ganz normal sein. Es gab für alle Bedürfnisse, Tages- und Jahreszeiten den entsprechenden Grenzposten zur Überfahrt von der Kaufenklave: über die Walserberg-Autobahn, wenn Urlaubsverkehr war, die denken, man fährt auf Urlaub, die Bundesstraße am Samstag, da sind die Grenzer doch faul und winken dich durch, jetzt nicht mehr der erotische Kitzel, jetzt kriminelle Energie, jetzt nur noch hoffen, dass uns der Zöllner durchwinkt, dass der Erziehungsberechtigte das schon durchbringt, dass man den um die Hälfte billigeren Parker-Kugelschreiber, den kühlen und schweren aus Aluminium, mit dem man in der Schule ordentlich Eindruck schinden wird, dass man den behalten darf, und doch wusste man nicht, dass es nicht der Erziehungsberechtigte war, sondern wir selbst, die Kinder, hinten im Fond, die das Vertrauen der Zöllner erweckten und den Verdacht ausräumten – was wird schon ein Erziehungsberechtigter zweier Kinder schmuggeln? – süß, zwei Hemden, da winkt man doch durch als kinderfreundlicher Zöllner, Salzburger Kennzeichen, keine Jugos mit hunderten Kaffeepackungen, ein Hoch auf die Städtepartnerschaft Salzburg/Freilassing, früher war das doch alles eins. Durchgewinkt. Gewonnen. Die Stimmung nach dem geglückten Schmuggel im Auto wie noch nie: ausgelassen. So eine Heiterkeit gab es nie wieder. Beim Vorfahren neben den Zöllner schaute der Erziehungsberechtigte auch nicht mehr grimmig, sondern normal, nicht zu freundlich, weil das hätte Verdacht erregt. Das Geschäftsgesicht, sachlich: Nein, nichts, nur ein paar Kleinigkeiten. Mit den ersten Rauchversuchen wurde Klein-München (Freilassing) als Prinzip von den Großen übernommen. Die Zigaretten in Deutschland: drei Mark. In Österreich: 30 Schilling. Das zahlt sich aus. Und außerdem: Roth-Händle oder Schwarzer Krauser gab es nicht in Österreich oder die Gitanes ohne Filter, so billig, den whiskeygetränkten Wuzeltabak Buccaneer. Beim Mitschüler Werner Gamsjäger expandierte die kriminelle Energie des Schmuggels über den Grenzbereich hinaus. Wenn man die Zigaretten schmuggelte, konnte man sie auch gleich klauen, das leuchtete ihm ein, mir nicht so ganz. An der Grenze, mit Zigaretten bepackt wie ein palästinensischer Selbstmordattentäter: ein Zigarettengürtel, der sich über den ganzen Körper erstreckte.. Am Karfreitag, zu Ostern 1983, im Jahr der Abdankung Bruno Kreiskys, wollte ich einen Film in meine Spiegelreflexkamera einlegen. Die Batterie war leer. So eine Batterie, die kostete in Österreich 190 Schilling und in Freilassing nur 19 Mark. Man wollte doch fotografieren zu Ostern. Die Familie in besinnlicher Stimmung, fernab von der Hektik und dem Stress des beruflichen Konsumalltags. Aber vorher wollte man die Erziehungsberechtigten noch als braves Konsumentenkind beeindrucken. Nach Freilassing, ich fahre schnell mit dem Fahrrad nach Freilassing, in unser Freilassing, das gehörte doch einmal zu Salzburg, und in Salzburg, da kostet doch so eine Batterie 190 Schilling und in Freilassing: 19 D-Mark! Das muss man doch ausnützen! Der Erziehungsberechtigte war begeistert. Aber komm nicht zu spät zum Mittagessen! Nein, nein. In der Gaswerkgasse dann schnell links abbiegen vor diesem Taxi, das geht sich aus, über die Grenze, schnell die Batterie gekauft, um eins bist du zurück. Es ging sich nicht aus. Ich durchlöcherte mit dem Kopf die Windschutzscheibe des Taxis, mein Glück – wenn der Kopf auf den Metallrahmen der Windschutzscheibe geprallt wäre, könnte ich diesen Text jetzt nicht schreiben. Schädelbruch. Wirbelbruch. Du hast Glück gehabt, sagt der Polizist am Krankenbett eine Woche später. Er zeigt mir Bilder vom Fahrrad, das aussieht wie ein zusammengeklappter Rollstuhl. Wegen Deinem persönlichen Schaden sieht die Polizei von einer Anzeige ab, hört der junge Konsument am Rande, doch seine Gedanken sind schon in Freilassing: Beim Juhasz gibt es doch schon ganz billige Räder, sein erster Gedanke, die kosten die Hälfte von den Rädern in Salzburg. Dieser Kreisky hätte doch in 13 Jahren die Mehrwertsteuer senken können. So wie in Freilassing. Dann wäre die junge Kaufkraft nicht im Krankenhaus gelandet. Nur weil diesen Politikern in Österreich die Marktwirtschaft kein Begriff ist. Dann wäre Salzburg wie Freilassing gewesen. Aber jetzt, seit dem EU-Beitritt, sind die Preise in Salzburg fast die gleichen wie in Freilassing. Jetzt lohnt es sich nicht mehr, über die Grenze zu fahren wegen einer Batterie oder einem Fahrrad. Wirtschaftlich gesehen. Daran erinnert mich meine Narbe, wenn ich mir die Haare kämme oder wenn ich dem Friseur sage, er soll mir die Haare hinten länger lassen. Ich will nicht, dass man meine Narbe sieht, weil ich schon öfter gefragt wurde, ob ich einer schlagenden Verbindung angehöre. Und unter den Schlagenden gilt ein Schmiss am Hinterkopf als Feigheit, weil man sich bei der Mensur ja weggedreht haben muss. Aber deswegen kämme ich mir die Haare nicht über die Narbe. Ich will es einfach verstecken: das Freilassing in mir. erschienen in Literatur und Kritik, 2004