Von Johannes Gelich
Ich habe eine gefährliche Affinität zum Wasser. In düsteren Momenten dachte ich früher oft, dass ich einmal ertrinken würde, weil es für eine Wasserratte wie mich das logische und folgerichtige Ende wäre, wie für einen Piloten, der abstürzt. Berufsrisiko sozusagen. Die Geschichten liegen bei mir nicht auf der Strasse, sondern unter Wasser. In jedem Gewässer lauert schon eine Geschichte.
Die erste Todeserfahrung machte ich im Pool meines Elternhauses: Es war Februar, und ich stieg als Vierjähriger auf die schon brüchige Eisfläche, nachdem meine ältere Schwester behauptet hatte, ich würde mich das nie trauen. Prompt brach ich ein und versank bis zum Hals in dem eiskalten Wasser. Meine Schwester zog mich heraus und stellte mich unter die Dachrinne an die sonnige Hausmauer und sagte: «Siehst du diesen Eiszapfen? Wenn er geschmolzen ist, bist auch du wieder trocken.» Sie liess mich bibbernd vor Kälte stehen, bis mich meine Mutter schon ganz blau im Gesicht von dieser ersten Wasser-Mutprobe erlöste.
HERR IM POOL
Als ich schwimmen konnte, war ich endlich Herr im Pool und schuf mir meinen eigenen Kosmos. Das Spiel ging so: Ich hüpfte unter Wasser von einem Beckenrand zum anderen wie Neil Armstrong unter Wasser. Was Armstrong auf dem Mond konnte, konnte ich unter Wasser schon lange. Ich hatte meinen eigenen Planeten unter Wasser entdeckt, unter Wasser war alles leichter, die Schwerkraft nahezu aufgehoben, keine elterlichen Befehle oder Schreie drangen in meine vom Wasser abgedichteten Ohren.
Das ging so weiter: Bei den Segeltörns auf der Jacht meines Vaters an der Küste Griechenlands wollte ich nicht an den sinnlosen Gesprächen über Navigation oder das Segeln teilnehmen, ich sass oder besser: hing im Bugkorb und starrte singend stundenlang auf die Oberfläche des Wassers, um gleichsam wie ein Hypnotiseur oder Magier Unterwassergeister aus den Tiefen des Meeres heraufzubeschwören. Und in seltenen Augenblicken gelang dieses Wunder, wenn auf einmal ein Schildkrötenpanzer oder die Flipper von Delphinen an die Wasseroberfläche kamen. Ich führte das auf meine magischen Kräfte zurück. An den Küsten der Kykladen entdeckte ich so die Magie der Phantasie und erfuhr meine Verwandlung zum Orpheus.
Mein erstes Rendez-vous (der Hades stand unter Wasser, und Eurydike schwamm darin) verlegte ich mit einem Freund ins Hallenbad: Wir luden unsere Angebeteten zum Schwimmen ein, doch von unseren feuchtnassen Annäherungsversuchen waren die jungen Nixen überhaupt nicht begeistert: Das Anspritzen oder der Versuch, ihnen den Oberteil ihres Bikinis (wo war der Verschluss?) herunterzuziehen, kam überhaupt nicht gut an, und es blieb bei diesem einen Abenteuer unter Wasser.
Als ich endlich motorisiert war, hätte man meinen können, dass für meine sexuellen Abenteuer jetzt lauschigere und trockenere Plätzchen in Frage kämen, doch weit gefehlt. In einer lauen Sommernacht hatten ein Freund und ich unsere Eroberungen vom Seefest schon auf den Hintersitzen unserer Vespas verstaut, doch uns fiel nichts Besseres ein, als auf den Spuren von Klimt eine Ruderpartie bei Mondschein vorzuschlagen. Unsere juvenile Geilheit vermochte nicht die Schwerkraft ausser Kraft zu setzen, und wir landeten alle vier im See. Die anschliessende Fahrt ins Seehaus war zwar romantisch, aber die Mädchen waren viel zu geschockt (und durchnässt), um sich von uns unter der Bettdecke aufwärmen zu lassen.
In meiner Studentenzeit gingen wir meistens im Bermuda-Dreieck (das klingt nach Sturm) der Innenstadt aus. Das gefürchtete Grätzel lag am Donaukanal, und wenn es sehr spät wurde, übernachteten wir bei einem Freund, der im zweiten Bezirk, am Kanal flussabwärts, wohnte. Da wir meistens auch das Geld fürs Taxi versoffen hatten, nahmen wir manchmal eine der Rettungszillen, die am Kai für Ertrinkende bereitstanden, und liessen uns flussabwärts treiben, bis wir quasi vor der Haustüre meines Freundes wieder an Land gingen.
Eines Nachts waren wir zu betrunken und hielten die Zille nicht in der Mitte des Donaukanals auf Kurs, sondern gerieten in eine Strömung an der Kaimauer und trieben unaufhaltsam auf den Bug der «Sisi» oder «Franz-Josef» zu. Die Zille donnerte an das hier vertaute Tanzschiff oder Restaurantschiff der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft, wir kenterten und hätten tatsächlich leicht ertrinken können, aber mittlerweile war ich längst Rettungsschwimmer geworden, denn die Abenteuer waren ja nicht im Kopf (wie eine österreichische Radiowerbung für das Lesen als Abenteuer im Kopf suggeriert), sondern im Wasser.
Als ich endlich mein sinnloses geisteswissenschaftliches Studium zu Ende gebracht hatte und mit dieser Qualifikation eine Stelle als Berlitz- Sprachlehrer (Ist das ein Fisch? Nein, das ist ein Tisch!) gefunden hatte, geriet mein Leben in einen schweren Sturm. Ich hatte Beziehungsprobleme und soff zu viel (nicht Wasser), ich war ein Wrack, als ich mich auf meine alten Wassermann- Qualitäten (obwohl ich Löwe im Sternzeichen bin) besann und anfing, nach der Arbeit ins Schwimmbad zu gehen. Und hier entdeckte ich (wieder einmal) meine bessere Welt. Fast ein Jahr dauerte diese Zeit meines evolutionären Rückwärtsganges in den Uterus hinter Glas: Ich schwamm und las und schrieb und schwamm, ich erholte mich, unter Wasser konnte das Leben nicht so zuschlagen wie draussen, da war alles langsamer, überschaubarer auch.
DIE WAHRE FREIHEIT
Als ich Jahre später meinen ersten Roman über diese Zeit schrieb und wieder im Hallenbad lebte, diesmal zu Recherchezwecken, lernte ich beim Probetauchen einen Mann kennen, der jede Woche im Hallenbad tauchen ging. Er hatte weder im Sinn, den Tauchschein zu machen, noch hatte er es je auf ein Tauchabenteuer im Meer angelegt. Auf meine Frage, warum er das macht, antwortete der Mann in bestem Wienerisch: «Das ist für mich wahre Freiheit! Du schwebst wie ein Astronaut im All unter Wasser. Hier kann ich mich entspannen!» Und ich dachte, Mann, du bist nicht allein. Ich bin mittlerweile überzeugter Indoor-Sportler, und die Natur schütze ich, indem ich nicht hingehe.
Als am 20. Jänner die Fruchtblase meiner Freundin (sie hat als sensibler Fisch Verständnis für meine Wasser-Affinität) geplatzt war, spekulierten wir Stunden vor der Geburt über das Sternzeichen unseres Kindes. Am 21. Jänner hätte der Wassermann begonnen, «Halt durch», sagte ich, «es muss ein Wassermann oder eine Wasserfrau werden. Für mich», beschwor ich sie. Unser Sohn weigerte sich, Wassermann zu werden, und kam um 21 Uhr 30 als Steinbock auf die Welt. Zur Strafe nannten wir ihn Lionel, den kleinen Löwen. Zuerst war ich enttäuscht, aber jetzt denke ich, es ist gut so, ich glaube ohnehin nicht an Sternzeichen, und ertrinken möchte ich jetzt auch nicht mehr. Aber die Sache mit Lionel und seiner Weigerung, Wassermann zu werden, wird auf jeden Fall eine längere Geschichte.
Johannes Gelich, 1969 in Salzburg geboren, lebt in Wien. 2006 erschien im Droschl-Verlag sein Erstlingsroman «Chlor».
erschienen in: Neue Zürcher Zeitung, 2006