Neue Formen der Verantwortungslosigkeit
Gestaltung: Johannes Gelich
Radiokolleg, ORF Ö1
28. Februar 2022, 09:05
Sie ist wieder in aller Munde: die Solidarität. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie erfuhr die Solidaritätsdebatte eine starke Wiederbelebung: während sich die Bürger im Lockdown in freiwillige Selbstisolierung begaben, um sich mit alten Menschen und Risikopatienten zu solidarisieren, wird den Impfgegnern zunehmend unsolidarisches Verhalten vorgeworfen. Die Gegner der Corona-Maßnahmen fühlen sich wiederum als Opfer eines totalitären Systems und rufen zur Solidarität gegen die Corona-Diktatur auf.
Der Münchner Revolutionär Kurt Eisner definierte 1908 die Solidarität ganz entschieden gegen alte, christlich determinierte Begriffe wie Mitleid und Barmherzigkeit: “Solidarität ist ein kaltes stahlhartes Wort, geglüht im Ofen wissenschaftlichen Denkens.” Die Solidargemeinschaft der Arbeiterbewegung kämpfte in diesem Sinne nicht um die Zuwendung von gönnerhaften Almosen, sondern um ihre rechtlichen Ansprüche wie Lohnerhöhungen, Arbeitslosengeld und Pensionsansprüche. Doch auch rechte und rechtspopulistische Bewegungen setzen heute auf den Begriff der Solidarität, indem sie vor allem auf den exklusiven Charakter der Solidarität pochen. Die Früchte des Wohlfahrtsstaates dürften demzufolge nur vermeintlich fleißigen, leistungsorientierten und kulturell angepassten Inländern zugutekommen. Unter dem Deckmantel der Solidarität wird somit gleichsam unsolidarisches Verhalten nationalisiert und legitimiert.
Der Wohlfahrtsstaat ist indes immer weniger Garant für die Erhaltung des Erbes solidarischer Errungenschaften: gerade die dreisten Strategien, die große Konzerne zur Vermeidung von Steuerzahlungen erfolgreich anwenden, zeigen die Hilflosigkeit des Staates gegenüber unsolidarischem Verhalten auf wirtschaftspolitischer Ebene. Im sogenannten Neoliberalismus sehen viele Kritiker denn auch das Symbol für die Auflösung solidarischer Traditionen, indem Betriebsräte verboten, Bildung, Gesundheitssystem und Pensionen privatisiert und nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien umgebaut werden.
Und auch die Sozialen Medien werden als Katalysatoren für eine neue Form des unsolidarischen Verhaltens betrachtet: so können unter dem Deckmantel der digitalen Anonymität auf Plattformen und Foren unzensierte Hasspostings, Diffamierungskampagnen und Morddrohungen von Gleichgesinnten postuliert und organisiert werden. Derartige willkürliche Solidaritätsgemeinschaften in Form von Filterblasen setzen dabei stets auf das unsolidarische Prinzip von Inklusion und Exklusion: Wir und die anderen. Der unverantwortliche und unmenschliche Charakter derartiger Ausschlussverfahren zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass die Meinungsführer auf derartigen Plattformen immer öfter sogenannte Bots sind: Künstliche Intelligenz, die darauf programmiert ist, als Idealtyp und gleichsam Führer der digitalen Solidargemeinschaft zu fungieren.
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LITERATURLISTE
Barbara Juen (Autorin), Dietmar Kratzer (Autor): Krisenintervention und Notfallpsychologie: Ein Handbuch für KriseninterventionsmitarbeiterInnen und psychosoziale Fachkräfte Taschenbuch, Studia Universitätsverlag Innsbruck, 2012
Barbara Prainsack,Wanda Spahl, Lukas Schlögl:
Austrian Corona Panel Project (ACPP)
Panelumfrage zur Corona-Krise
https://viecer.univie.ac.at/coronapanel/
Barbara Prainsack, Lukas Schlögl, Wanda Spahl:
Centre for the Study of Contemporary Solidarity (CeSCoS): https://politikwissenschaft.univie.ac.at/forschung/forschungsschwerpunkte/cescos-zeitgenoessische-solidaritaetsstudien/
Ergebnisse aus der Interviewstudie “Solidarity in Times of a Pandemic” (SolPan): https://digigov.univie.ac.at/solidarity-in-times-of-a-pandemic-solpan/solpan-publications/
Walter Wüllenweber (Autor): Frohe Botschaft: Es steht nicht gut um die Menschheit – aber besser als jemals zuvor, Deutsche Verlags-Anstalt, 2018
Walter Wüllenweber (Autor): Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren – und wer davon profitiert, btb Verlag, 2014
Oliver Picek, Senior Economist – Momentum Institut:
https://www.intereconomics.eu/contents/year/2020/number/5/article/spillover-effects-from-next-generation-eu.html
Dietmar Süß (Autor), Cornelius Torp (Autor): Solidarität: Vom 19. Jahrhundert bis zur Corona-Krise, Dietz, J H, 2021
Martin Schenk, Sozialexperte sowie Stv. Direktor der Diakonie Österreich und Mitbegründer der “Armutskonferenz”:
https://blog.diakonie.at/autorin/martin-schenk
Carina Altreiter (Autorin), Jörg Flecker (Autor), Ulrike Papouschek (Autorin), Saskja Schindler (Autorin), Annika Schönauer (Autorin): Umkämpfte Solidaritäten: Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft, Promedia, 2019
Herbert Langthaler, Öffentlichkeitsarbeit, Schulworkshops und Chefredakteur asyl aktuell:
https://www.iwk.ac.at/events/herbert-langthaler-das-ist-alles-so-kompliziert-vermittlung-rechtlicher-und-politischer-zusammenhaenge-im-themenfeld-flucht-und-asyl
Natascha Strobl (Autorin): Radikalisierter Konservativismus, Eine Analyse. Edition Suhrkamp, 2021
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