Wer ist Opfer? Macht und Ohnmacht eines Rollenbildes

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RADIOKOLLEG, ORF, Ö1
6.-9.4.2020

Gestaltung: Johannes Gelich

In Zeiten von Populismus, Klimakrise, Geschlechter- und Generationenkampf geistert ein Begriff durch die einschlägigen gesellschaftspolitischen Debatten: das Opfer. In den letzten Jahren ist, so scheint es, ein regelrechter Opfermarkt entstanden: das Volk ist Opfer einer von außen gesteuerten Migrationspolitik, sagen rechte Populisten. Der Arbeitnehmer von heute ist Opfer der Profit-Interessen von Kapital, Konzernen und politischen Eliten auf dem Schlachtfeld des Neoliberalismus, sagen linke Populisten.
Frauen sind Opfer von sexistischen Übergriffen in Beruf und Medien, sagen Frauenrechtlerinnen. Männer sind Opfer von blindwütigen Feministinnen, sagen Männerverbände. Dritte-Welt-Länder sind Opfer neokolonialistischer Politik des reichen Westens, sagen Globalisierungskritiker. Wachstumsideologie, Umweltzerstörung und die Ausbeutung von Ressourcen geschehen auf dem Rücken der Kinder, sagen Ökologen. Eltern werden von ihren Kindern in Altersheime abgeschoben und vernachlässigt, sagen Pensionisten-Verbände.


Das Opfer, so viel steht fest, ist der wahre Held unserer Zeit. Opfer zu sein, verspricht höchste Anerkennung, erzeugt machtvolle Ansprüche und ist über jede Kritik erhaben. Doch warum und seit wann hat der Opfer-Status einen derartigen Stellenwert in der westlichen Kultur und ihren gesellschaftlichen Debatten gewonnen? Die Darbringung von Opfern gegenüber Göttern ist ein wesentlicher Bestandteil der meisten Religionen der Welt. Doch im Christentum hat sich Gott durch seine Menschwerdung bis zu seinem Tod am Kreuz selbst geopfert. Hier zeigt sich religionsgeschichtlich insofern eine Wende, als sich Jesus für die Sünden der Menschen selbst opfert und damit weitere Opfer überflüssig macht.

Die Anbetung des Opfers hat im Medienzeitalter jedoch eine neue, quasi-religiöse Dimension erfahren: Das Fernsehen und eine adäquate Medien-Inszenierung leben geradezu von der Dauerpräsenz des Opfers. Von der Allgegenwärtigkeit des Opfers von Verbrechen in Kriminalfilmen bis hin zur Akkumulation von politischem Kapital durch Fernsehbilder wie 9/11: in den Medien ist längst eine Konkurrenz um die Präsenz der Opfer-Identitäten entstanden. Und auch die österreichische Identität war noch lange nach dem 2. Weltkrieg von dem Mythos geprägt, das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Doch was sind die Auswege aus diesem schädlichen, medial transportierten Opfer-Täter-Schema? Gefragt sind die Stärkung demokratischer Kräfte und die Verantwortung jedes Einzelnen, Fakten zu studieren, Lösungsansätze zu diskutieren und sich in demokratische Entscheidungsprozesse einzubringen. Nur so lässt sich dieser Regress ins Primitive unterbinden.

Literaturliste:

René Girard, Elisabeth Mainberger-Ruh (Übers.): Das Heilige und die Gewalt,
Patmos Verlag, 2012.

Matthias Lohre: Das Opfer ist der neue Held: Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben, 288 Seiten, Gütersloher Verlagshaus, 2019.

Kirstin Breitenfellner: Wie können wir über Opfer reden? Passagen-Verlag, 2018
Kirstin Breitenfellner: Wir Opfer: Warum der Sündenbock unsere Kultur bestimmt, Diederichs, 2013.

Bernhard Laum und Christina von Braun: Heiliges Geld: Eine historische Untersuchung über den sakralen Ursprung des Geldes, Semele-Verlag, 2006.

Peter Novick: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord (Deutsch),
Deutsche Verlags-Anstalt DVA, 2001.

Kerstin Schweighöfer (Autor), Dieter Quermann (Autor): Herzensbrüche: Geschichten von Trennungen und Neubeginn, Hoffmann und Campe Verlag, 2019.

Bärbel Mechler: Mein (Ex-)Partner ist ein Psychopath: Wege aus der Opferfalle, Mankau Verlag, 2017.

Matthias Dusini (Autor), Thomas Edlinger (Autor): Glanz und Elend der Political Correctness, edition suhrkamp, Suhrkamp Verlag, 2012.
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